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Der Schulabschluss – ein langer und beschwerlicher Weg

Um es gleich vorwegzunehmen – Tommy hat es geschafft! wave
Er hat seinen qualifizierten Realschulabschluss bestanden.

Aber es war ein wirklich langer und beschwerlicher Weg, was in meinen Augen nicht nötig gewesen wäre, wenn auf die Bedürfnisse autistischer Kinder mehr eingegangen werden würde.

In einem anderen Beitrag habe ich euch schon etwas genauer über Tommys Kindergarten- und Grundschulzeit berichtet. Die Bedingungen in der Vorklasse und der Grundschule an einer Förderschule waren für Tommy wirklich ideal. Die Klassen waren sehr klein (max. 9 Schüler), und da es sich um eine Schule für hörgeschädigte Kinder handelte, war die Schule auch überall mit Trittschalldämmung ausgestattet und vieles mehr.

Nach dem Ende der Grundschulzeit, wo Tommy ein wirklich sehr guter Schüler war, musste er auf eine Regelschule wechseln. Kurz nach dem Wechsel fingen die Probleme dann an, Tommy war immer häufiger und immer länger krank. Es war eine tolle Schule, daran lag es nicht. Aber Tommy war es insgesamt einfach zu laut und es waren einfach zu viele Reize. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir noch keine Autismus-Diagnose und konnten uns überhaupt nicht erklären, warum Tommy so oft krank war.

Er konnte immer seltener zur Schule gehen, bis er schließlich gar nicht mehr aufstehen konnte. Er lag nur noch in seinem abgedunkelten Zimmer und hat fast ausschließlich geschlafen. Das war für die ganze Familie eine sehr harte und kräftezehrende Zeit. Auf der einen Seite war die Schule, die dazu verpflichtet ist, dafür Sorge zu tragen, dass Tommy seiner Schulpflicht nachkommt. Das heißt, wir hatten eine Attestpflicht auferlegt bekommen und mussten ständig mit Tommy zum Arzt fahren. Keine einfache Angelegenheit, wenn beide Elternteile berufstätig sind. Auf der anderen Seite die Ärzte, die dann irgendwann sagten, dass sie kein Attest mehr ausstellen, weil sie organisch nichts feststellen können. Und nicht zuletzt Tommy, der immer mehr verzweifelte, weil er von allen Seiten nur noch Druck bekam, wodurch es ihm immer schlechter ging.

In dieser Phase folgte dann auch ein Aufenthalt in der Tagesklinik, um den somatischen Beschwerden auf den Grund zu gehen. Leider hat der Aufenthalt dort überhaupt nichts gebracht und auch hier war es für Tommy eine Qual, die Tage dort verbringen zu müssen.

Zeitgleich hatten wir endlich den Termin zur Testung, ob Tommy Autist ist. Nun hatten wir endlich schwarz auf weiß, was ich ja schon sehr lange vermutet hatte, was mir aber keiner glauben wollte. Tommy ist Autist.

Das erklärte doch vieles und jetzt konnten wir natürlich auch gegenüber der Schule und den Ärzten ganz anders argumentieren. Tommy wiederholte freiwillig das 7. Schuljahr, da er durch die vielen Fehltage und den zusätzlichen Aufenthalt in der Tagesklinik schlichtweg den Anschluss verpasst hatte. Er wurde dann auch für ein paar Wochen komplett zu Hause unterrichtet, bis er sich wieder einigermaßen erholt hatte.

Mit der Diagnose konnten wir jetzt auch Hilfen über das Jugendamt beantragen. Tommy bekam Autismusförderung und zusätzlich Unterstützung von einem Lerninstitut. Ein paar Wochen funktionierte es ganz gut, aber dann fing das ganze Dilemma wieder von vorne an. Tommy hatte jede Menge Fehltage, die Lücken, die er aufarbeiten musste, wurden immer größer und er landete wieder in einer Depression.

In dieser Zeit habe ich nicht mehr daran geglaubt, dass Tommy jemals einen Schulabschluss erreichen würde. Der Druck und der Stress auf die ganze Familie wurde immer schlimmer. Doch dann passierte etwas, was niemand vorhersehen konnte. Was für die meisten Menschen eine echte Katastrophe war, war für uns ein Segen. Es kam der 1. Lockdown wegen Corona. Auf einmal sollten die Schüler alle zu Hause bleiben, es gab Online- bzw. Distanzunterricht, die Schulen wurden digitalisiert.

Wie das für Tommy war, könnt ihr hier nachlesen: id.tommysblog.de/1178

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Es hat sich sehr schnell gezeigt, dass für Tommy diese Art zu lernen und seine Schulaufgaben zu erledigen, deutlich besser klappte als alles, was wir vorher versucht hatten. Auch die Schule hat das schnell erkannt und mit dem Schulamt abgeklärt, dass Tommy auch außerhalb der Lockdown-Phasen von zu Hause aus im Distanzunterricht weiter lernen durfte. Das war natürlich nicht einfach (für alle Seiten, auch nicht für die Lehrkräfte), denn wenn der Rest der Klasse in der Schule war, hat Tommy zu Hause ja nichts vom Unterricht mitbekommen. Er musste sich mehr oder weniger den ganzen Schulstoff selbst erarbeiten, hing immer hinterher und musste immer an den Wochenenden und in den Ferien nacharbeiten, um es überhaupt zu schaffen. Zum Glück hatte er wirklich großartige Unterstützung durch das Lerninstitut. Wie sein Trainer es immer wieder geschafft hat, Tommy zum Durchhalten zu motivieren, ist mir ein Rätsel. Ich bin ihm für seine Geduld und sein Durchhaltevermögen wirklich sehr dankbar.

Zusätzlich hat Tommy noch an einem Vorbereitungstraining für die Abschlussprüfung teilgenommen. Auch das war mehr als hilfreich, zumal er dort vorab auch Probeklausuren geschrieben hat. So wusste er, wie die Prüfungen in etwas ablaufen würden. Für einen Autisten ein absolut wichtiger Punkt ?.

Am Ende hat Tommy den qualifizierten Realschulabschluss tatsächlich geschafft. Das war aber nur möglich, weil viele Faktoren zusammengekommen sind:

  1. Die Schulleitung, die Lehrkräfte und die Mitschüler von Tommy waren immer auf seiner Seite. Die Schule hat Tommy ermöglicht, im Distanzunterricht zu bleiben, was keinesfalls selbstverständlich ist.
  2. Die Unterstützung, die Tommy durch seine Autismusförderkraft und durch seinen Lerntrainer erfahren hat.
  3. Seine Schwester, die mit Tommy in den Ferien Schulstoff aufgearbeitet hat.
  4. Tommys Durchhaltevermögen.
  5. Tommys Arzt, der uns immer behilflich war, wenn für irgendeine Stelle kurzfristig ein Bericht benötigt wurde.
  6. Und last but not least – Corona – denn ohne den Lockdown wäre der Distanzunterricht gar nicht erst zustande gekommen.

Dennoch hätte es eine Möglichkeit gegeben, uns allen das Leben einfacher zu machen. Denn die Zeit war wirklich für die ganze Familie eine enorme Belastung. Für autistische Schüler, denen es solche Probleme bereitet, in die Schule zu gehen, sollte es ermöglicht werden, eine Webschule zu besuchen. Es gibt solche Schulen. Aber die meisten Jugendämter lehnen die Finanzierung dieser Schulform generell ab. In unserem Fall wurde es u.a. damit begründet, dass Tommy soziale Kontakte pflegen muss und der deshalb in die Schule gehen müsse. Aber erwartet man von einem Kind im Rollstuhl auch, dass es jeden Tag versucht aufzustehen und die Sprossenwand hochzuklettern? In meinen Augen ist für viele Autisten der Besuch einer Regelschule genauso unerreichbar! Einem Autisten sieht man seine Behinderung aber nun mal nicht an, weshalb es so schwer ist, in der Gesellschaft Verständnis für die Bedürfnisse von Autisten zu bekommen.

Auch wenn Tommy es nun Gott sei Dank geschafft hat, so hoffe ich doch für all die anderen kleinen Autisten, die diesen Weg noch vor sich haben, dass sich sehr bald an unserem Schulsystem etwas ändert und Distanzunterricht, Webbeschulung usw. für sie bald Normalität wird.

Herzlichst – Eure Frieda

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